PACT Fellowship 20/21

Als Fellows 2020/2021 unterstützt PACT Künstler:innen, die in ungewöhnlicher Weise auf komplexe, gesellschaftliche Fragestellungen reagieren und mit den Mitteln des künstlerischen Arbeitens in diese hineinwirken. Die Corona-Krise hat zahlreiche gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen sichtbarer und ihre essentielle Bedeutung für die Gesellschaft und ihre Zukunft spürbar gemacht. Hierzu zählen die Relevanz von Care-Arbeit ebenso wie die Potentiale digitaler Räume und Entwicklungen, sowie zugleich die Unersetzbarkeit und Einzigartigkeit des physischen Miteinanders.

In drei Fellowships, in denen Teams aus Künstler:innen, Aktivist:innen, Philosoph:innen und Technologie-Expert:innen miteinander in einen Arbeitsprozess treten, entstehen temporäre Forschungsgemeinschaften.

PACT unterstützt durch die Bereitstellung von Zeit, Raum und einem Stipendium einen dezidiert ergebnisoffenen Prozess, in dem neue, nachhaltige Modelle und Vorschläge entstehen sollen. In der aktuellen Krise erleben wir auch eine Erschütterung des Denkens in strikt getrennten Disziplinen: komplexe Situationen erfordern eine multiperspektivische und kreative Betrachtung. Dieser Überzeugung folgend, möchte das Fellowship modellhaft innovative Formen der Zusammenarbeit entwickeln. 

Das Fellowship Programm von PACT Zollverein wird gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.

Claire Vivianne Sobottke, Jared Gradinger & Tian Rotteveel

Claire Vivianne Sobottke beschäftigt sich mit den Praktiken des Tanzes, der Choreographie und der Performance. Sie begreift dabei ihre Arbeit als einen Ort des Widerstands und des undoing, ein Ort, an dem Normen des Denkens und der Wahrnehmung in Frage gestellt und verändert werden können. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien für ihre choreographische Arbeit und kooperierte mit renommierten Künstler:innen wie Meg Stuart / Damaged Goods, Tino Sehgal, Fabrice Mazilah und Sheena Mc Grandkes. In ihrer choreographischen Arbeit definiert sie den Körper als eine Akkumulation von biographischen Erinnerungen, Erfahrungen und Geschichten, Traumata, Identitätsentwürfen, Hoffnungen und Projektionen und Magie. Tanzen wird zu einer Möglichkeit, dieses Wissen über den Körper zu aktivieren, und die ihm inhärenten Turbulenzen sichtbar zu machen. 

Maria Francesca Scaroni (Fellow bis 2020) arbeitete ebenfalls als Tänzerin und Kollaborateurin mit Meg Stuart / Damaged Goods, ebenso wie u.a. mit Jess Curtis, Jeremy Wade, Frank Willens und Tino Sehgal. Auch für ihre Arbeit bildet der Körper selbst einen zentralen Ausgangspunkt – das ›Tanzen‹ begreift Scaroni als zugleich als psychisch-physisches, soziales, spekulatives und spirituelles Terrain, als ein zutiefst transformatives und emanzipatorisches Untersuchungsfeld. Ihre künstlerische Forschung konzentriert sich auf die Schnittmenge von Heilung, Kunstschaffen und der feministische Praxis, das Verständnis von Care-Arbeit ebenso wie Ekstase – für Scaroni Orte und Bedingungen, unter denen Empowerment stattfinden kann.

Tian Rotteveel ist Komponist und Choreograph. Seine Arbeit brachte ihn mit namhaften Choreograph:innen, darunter Jeanine Durning, David Zambrano, Jeremy Wade, Tino Sehgal, Martin Nachbar, Hermann Heisig und Diego Dil zusammen. In seiner Arbeit reflektiert er den Körper als Zentrum der Wahrnehmung und Motor des Ausdrucks als das eigentliche Instrument.

Jared Gradinger (Fellow ab 2021) arbeitet als interdisziplinärer Künstler in den Bereichen Performance, Tanz, Social Art und Ökologie. Seit 2002 lebt er in Berlin und entwickelt seitdem langfristige Kollaborationen und eigene künstlerische Praktiken, die Gemeinschaft und Natur verbinden und gleichzeitig neue Formen des Zusammenlebens erkunden. Seit 2009 arbeitet er mit Angela Schubot an der Thematik des entgrenzten Körpers. Er baut zudem Gärten, die Begegnungen zwischen Mensch und Natur ermöglichen und dazu anregen, mit der Natur im Einklang zu arbeiten.

Zu dritt formen Claire Vivianne Sobottke, Jared Gradinger und Tian Rotteveel für die Dauer ihres Fellowships ein flexibles Kollektiv, um mit ihren künstlerischen Praxen einen Raum für interdisziplinäres Lernen und Begegnen zu entwickeln. Dabei entwerfen sie eine Schule als Modell einer Bildungsinstitution, in der auf nicht-hierarchische Weise, non-verbale und nicht-rationale, erfahrungsbasierte Lern- und Wissensformen konzipiert werden, die im Terrain der Kunst erprobt und letztlich in gesellschaftliche und politische Räume wirken können. Die Frage, in welcher Weise sich das Schaffen des Einzelnen im Dialog mit anderen Akteur:innen und Gemeinschaften entwickeln kann, ist hier zentral. Das Trio entwickelt Ideen und Konzepte ausgehend von der eigenen (körperlichen) Praxis und den Begegnungen mit Anderen. Sie transformieren künstlerische Forschung zu kreativen Techniken, die gesellschaftliche Phänomene durchdringen sowie von diesen durchdrungen werden.

Barbara Raes und Sophie De Somere

Sophie De Somere ist künstlerische Leiterin und Gründerin des Raumes ONBETALBAAR (dt. unbezahlbar) in Gent (Belgien). Dieser ist gleichzeitig Werkstatt und Denkfabrik. ONBETAALBAR ist ein Raum, in dem Schreiner:innen, Architekt:innen, Handwerker:innen, Bühnenbildner:innen und Künstler:innen die Vergänglichkeit von Objekten neu denken: aus Abgelegtem und Weggeworfenem entstehen neue Werkzeuge und Dinge, zugeschnitten auf individuelle Bedürfnisse, neue Möglichkeiten und die Gesellschaft der Zukunft. Dabei werden Ökologie, Ökonomie, Philosophie, Design und die Wertschätzung des (vorhandenen) Materials zu den entscheidenden Gestaltungsmitteln.

Barbara Raes war über 14 Jahren als Kuratorin und künstlerische Leitung an renommierten Institutionen der Performing Arts wie Vooruit (Gent) und dem Kunstzentrum BUDA (Kortrijk) tätig. Ihre intensive Beschäftigung mit Vergänglichkeit, Pflege- und Fürsorgearbeit sowie mit Ritualen führte sie jedoch zu einer Neuorientierung: mit BEYOND THE SPOKEN initiierte sie ein künstlerisches Projekt, das in der Entwicklung neuer Rituale nach Antworten auf die Transformation und die Bedürfnisse einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft sucht.

Als temporäres Kollektiv suchen Sophie De Somere und Barbara Raes nach Möglichkeiten, Kunst und Fürsorge zu verbinden und betrachten damit ein Feld, dessen Relevanz vor dem Hintergrund der Corona-Krise erneut deutlich geworden ist. Raes und De Somere gehen dabei der Frage nach, wie Objekte oder neue Rituale einen Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen und Gewohnheiten anstoßen können. Wie könnten auf diese Weise auch neue Formen des Abschiednehmens und der Trauerarbeit entstehen? Als Ansatzpunkt für ihre Recherche suchen die Künstler:innen nach Gesprächspartner:innen in Pflegeeinrichtungen und sozialen Initiativen in Essen-Katernberg.

Um langfristig im Stadtteil zu wirken, entwirft das Duo gemeinsam Visionen und Modellprojekte wie z.B. Lichtinstallationen, Begegnungsprojekte mit Schüler:innen im Seniorenheim sowie partizipative Projekte, die sich mit bereits bestehenden Formaten der WerkStadt verbinden und somit nachhaltige Effekte und Einflüsse erzielen. Das Thema Abschiednehmen stellt den Kern des Schaffens von Barbara Raes dar. Sie erforscht unterschiedliche Rituale sowie die dazugehörigen Objekte und entwirft basierend auf diesen Recherchen neue Rituale, die außerhalb tradierter, religiöser Formen, neue Strategien für den Umgang mit Verlust vorschlagen. Sophie De Somere greift in ihrer praktischen Arbeit Konzepte von Kreislaufwirtschaftssystemen auf und entwickelt in dieser Prototypen für entsprechende Objekte. In ihrer gemeinsamen künstlerischen Arbeit verbindet sie eine hohe Sensibilität gegenüber diversen Gruppen – sie spüren den Bedürfnissen innerhalb von Gemeinschaften in Momenten der Transformation und Fragilität nach und ermutigen, die eigenen Bedürfnisse gleichermaßen offenzulegen und einzufordern. Als Künstler:innen entwerfen sie Strategien, Rituale und Praktiken, mit diesen Herausforderungen umzugehen.

Nathan Fain und die aLifveForms von Johannes Paul Raether

Nathan Fain ist kreativer Technologie-Entwickler: er entwirft und baut die technologischen Objekte und interaktiven Komponenten, die künstlerischen Visionen zugrunde liegen. Zugleich baut und schreibt er eigene, technisch-utopische Charaktere. Er war international an Projekten wie ›Jaha Kuckuck‹ von Jaha Koo, ›Situation Rooms‹ von Rimini Protokoll sowie in mehreren Erscheinungen der aLifveForms von Johannes Paul Raether beteiligt, darunter ›Protektoramea 5.5.5.1‹ und ›X Shared Spaces‹. Fains Kreationen, darunter ›Empathy Bots‹, ist gemeinsam, dass sie ein kollektives Erlebnis kreieren und zugleich, im Design angelegt, eine Konsequenz im Realen erwirken. Sie sind Interfaces an der Schnittstelle von Fiktion und Nicht-Fiktion. Im Zentrum der Arbeit von Johannes Paul Raether stehen konstruierte Identitäten (sogenannte aLifveForms oder AlterIdentitäten und SelfSisters des Künstlers), die an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum entstehen, wo sie forschen, lehren und Geschichten erzählen. Als farbenfrohe Wesen, die sich aus Alltagsgegenständen zusammensetzen, diskutieren sie komplexe Themen wie Bio- und Reproduktionsindustrie, globalisierten Tourismus oder okkulte Substanzen in der zeitgenössischen Technologie. Die von den aLifveForms hergestellten Geäre und ihre Erscheinungen wurden u.a. auf der 9. Berlin Biennale, im Palais de Tokyo in Paris, im Fridericianum in Kassel und bei Savvy Contemporary in Berlin gezeigt. Kürzlich fanden Einzelausstellungen in District in Berlin, Transmission Gallery in Glasgow und Ludlow 38 in New York City statt. Derzeit ist Raether Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg.

Bereits seit 2016 haben Fain und die aLifveForms verschiedene Projekte zusammen realisiert. PACT unterstützt mit der Vergabe des Fellowships ihren dezidiert interdisziplinären Ansatz und die Weiterentwicklung ihrer Zusammenarbeit als künstlerisch-technologische Grundlagenforschung. Bewusst reflektieren Fain und Raether dabei die strukturelle Diskrepanz zwischen technischer und künstlerischer Arbeit und die unausgesprochene Hierarchie zwischen diesen Arbeitsformen. In einer gleichberechtigten Kooperation legen Fain und Raether für ihr Fellowship unter dem Titel ›Techno Poesis‹ ein Projektkonzept vor, das tragbare und vernetzte Computertechnologie mit kritischer künstlerischer Praxis in einem interdisziplinären kulturellen Bereich verbindet.

Dafür greifen sie auf das von Protektorama, einer von Raethers aLifveForms  in verschiedenen Momenten geprägte Motiv der ›Surrogate Witch‹ zurück, die im Rahmen des Fellowships als eine cross-Plattform und multifunktionale Anwendung ausgestaltet wird. Die ›Surrogate Witch‹ ist dabei mehr als ein Techno-Prop: sie nimmt die Funktion einer maschinellen Co-Darstellerin oder Dramaturgin ein. Als ein vernetzter Körper führt die ›Surrogate Witch‹ etliche, digitale Fragmente und Anwendungen in einer Einheit zusammen – so ist sie zugleich eine Browser-basierte Internet-Plattform mit Java-Skripten, eine App im App-Store oder ein Chat-Bot. Mit der ›Surrogate Witch‹ wird ein modellhaftes und ständig erweiterbares Medium entwickelt, das als künstlerisch-technisches Tool-Set neue Formen der vernetzten Zusammenarbeit und der Gemeinschaftsbildung anstößt, die Fain und Raether durch seine AlterIdentität hindurch als »Communeering« bezeichnen. Dabei wurzelt ihre Praxis nicht im Theaterraum, sondern verbindet sich zu Orten des alltäglichen und des digitalen Lebens.

Aufwändige Projekte wie ›Surrogate Witch‹ wären in den kurzen Produktionszyklen gängiger Theaterarbeit nicht realisierbar. Raethers aLifveForms und Fain möchte deshalb das Fellowship nutzen, um die ›Surrogate Witch‹ als nachhaltiges Projekt zu vertiefen: jenseits der Bedürfnisse einer einzelnen Produktion oder der Idee einer Einweg-Praxistauglichkeit entsteht die ›Surrogate Witch‹ als eine techno-poetische Einheit, eine künstliche Körperform mit einer eigenen, einzigartigen Struktur und Sprache. Sie hört auf, ein einfaches Werkzeug zu sein, geht über die modernistischen Annahmen von Autor:in, Schauspieler:in und Requisite hinaus und kann den Status von Co-Autor:in oder Co-Schauspieler:in erlangen, einer Entität, die aLivfe – quasi ‚lebendig` wird. Einem solchen Bestreben ist es immanent, dass es nicht nur als Open Source Projekt angelegt, sondern fließend in seiner Anwendbarkeit sein sollte. Der Arbeitsprozess sieht dabei auch die Kooperation mit anderen Entwicklern oder Studierenden technischer Fachrichtungen regional ansässiger Universitäten vor. Die Entwicklung wird begleitet von einer Dokumentation, die die verschiedenen Schritte ebenso wie die unvermeidlichen Misserfolge einer solchen experimentellen Entwicklung öffentlich zugänglich und den Code als Open-Source-Basis nutzbar macht.