ÜBER DEN ÄQUATOR
Pascal Bovée


by Pascal Bovée

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Residenzen

Wir stehen auf dem Parkplatz. Mit einem neongelben Stift zieht Beni eine Linie quer durch die Stadt. Als große Karte hat er sie ins Schaufenster der WerkStadt gehängt. Das ist Teil der kleinen Umfrage, die er zum Leben in Katernberg macht. Es dauert keine Minute, dann stellen sich zwei Nachbarn zu uns. 

»Wollt ihr da jetzt zwei Städte draus machen?« Der eine Nachbar schüttelt den Kopf. Sein braunes Gesicht zeigt Skepsis. 
»Das ist die A 40«, sagt der andere und zwirbelt sich am Schnauzbart. Dann fängt er an zu grinsen. »Der Sozialäquator.« Mit ein wenig Ironie sagt er das, gerade soviel, dass er das Wort auch ernst meinen könnte. Wir reden über die Autobahnen in Essen. Ich erzähle, dass ich immer eine rauschen höre, wenn ich im Wald spazieren gehe. Am Anfang dachte ich, das wären die Bäume. Beni fragt sich, ob so eine Autobahn Menschen eher verbindet oder trennt. Wir schauen gemeinsam auf die lange, gelbe Neonlinie auf dem Stadtplan. Als Verkehrsweg verbindet die A40 den Osten mit dem Westen des Ruhrgebiets. Aber als Barriere in der Landschaft teilt sie gleichzeitig den Norden vom Süden. Oberhalb dieser asphaltierten Grenze liegen stillgelegte Zechen und die ehemals dazu gehörenden Arbeiterquartiere. Im Süden befinden sich die Ruhr, der Wald, die Naherholungsgebiete. Auch in den Erwerbslosenquoten kann man die Trennlinie ablesen. Oder in den Abiturquoten. Aber muss man das? Eine Grenze ziehen mit der Statistik? Oder mit einer neongelben Linie auf einer Karte? Wir diskutieren darüber. Dann zeigt der Nachbar mit dem Schnauzbart auf eine ovale Fläche am unteren Rand der Stadt. »Da war ich noch nie«, sagt er. Die ovale Fläche ist der Baldeneysee, ganz im Süden. Segel- und Ruderwettbewerbe finden dort statt. Wenn man an einem sonnigen Wochenende vor dem Regattahaus am See entlang spaziert, denkt man: Da hatte ich wohl dieselbe Idee wie alle anderen Essener auch. Aber das stimmt nicht. Der Mann mit dem Schnäuzer bleibt dann jedenfalls im Norden. 
»Man kann von hier super mit dem Fahrrad zum See fahren«, sagt Beni. Diesmal nicken beide Nachbarn, aber sehen dabei nicht so aus, als wollten sie  demnächst mal eine Radtour in den Süden machen. Im Schaufenster, in dem die Neon-A40 klebt, spiegeln sich unsere Gesichter. Irgendwas ist da vielleicht dran, an dieser Sache mit der Grenze oder wie der Nachbar gesagt hat: Äquator. 

Einen Tag später stehe ich in der Kassenschlange im Rossmann und schaue nach draußen auf die Straße. Passanten gehen an der Drogerie vorbei wie an Schnüren gezogen. Nur der eine Nachbar von gestern steht vor dem Schaufenster und blickt in meine Richtung. Ich erkenne ihn an seinem Schnauzbart. Er schaut aber nicht zu mir, sondern betrachtet ein Fensterbild, das in der Scheibe hängt. Es hat die Form eines Heißluftballons, der aussieht, als würde er gerade über die Katernberger Straße fliegen. Im Ballonkorb stehen zwei Piloten, die man gegen die Sonne nur als Schatten erkennt. Einer zeigt die Straße hinauf nach Norden. Der andere blickt gen Süden, mit so einem alten Fernrohr, wie man es früher auf Segelschiffen benutzt hat. Während der Kassierer das Toilettenpapier über den Scanner zieht, überlege ich, wohin die Piloten fahren. Unten links am Ballonkorb baumelt ein Anker – ist das die Hinterseite? Ich bin noch nie Ballon gefahren, aber ziemlich sicher benutzen Ballonfahrer gar keinen Anker. Andererseits: Schlecht wäre es nicht, damit könnte man dann zum Beispiel auf einem See landen. Als ich bezahlt habe und den Nachbarn vor dem Rossmann ansprechen möchte, ist er verschwunden.

Wenig später steige ich in die 107 und fahre zurück zu unserer Wohnung die im Essener Süden liegt. Wie die Straßenbahn die A40 überquert, merke ich nicht. Weil sie es gar nicht tut, sondern irgendwo vor der Autobahn abtaucht und zur U-Bahn wird. Am Hauptbahnhof muss ich umsteigen. Die andere Linie 107 ist verspätet. Die »andere« 107 deshalb, weil es die 107 zweimal gibt. Diese Linie fährt vom Bahnhof aus als zwei getrennte Straßenbahnlinien los, eine Richtung Norden, die andere Richtung Süden. Ich muss auf die zweite warten und gehe noch kurz in den Zeitschriftenladen. Es gibt nichts Spezielles, wonach ich suche. Aber ich stoße auf etwas. Auf dem Cover einer Zeitschrift sind Heißluftballons abgebildet. Es ist eine GEO-Spezialausgabe über Flugpioniere. Ich kaufe das Magazin und schlage es schon auf der Rolltreppe zurück zur 107 auf. Gleich versinke ich in der Geschichte, die von zwei Ballonfahrern handelt. Der eine heißt John Jeffries. Er ist Engländer, ein wohlhabender Arzt und Naturwissenschaftler. Der andere, Jean-Pierre Blanchard, ist Franzose. Ein Draufgänger und Entertainer, der mit waghalsigen Flugshows sein Geld verdient. Eine britische und eine französische Flagge haben die beiden im Gepäck, als sie sich am siebten Januar 1785 aufmachen, als erste Menschen die Grenze zwischen England und dem europäischen Kontinent fliegend zu überqueren: den Ärmelkanal. Außerdem mit im Ballonkorb: zwei Flaschen Whiskey und ein großer Stapel Werbeprospekte für die Flug-Shows, mit denen Blanchard sein Geld verdient.

Der Pionierflug der beiden ungleichen Piloten ist von Zankerei geprägt. Noch bevor sie in Dover abheben, streiten sie bereits darüber, wem hinterher der Ruhm gebühren wird, wenn sie in Calais gelandet sind. England oder Frankreich? Jeffries oder Blanchard? 
Erst in großer Höhe im Ballonkorb, so vermute ich, wird den beiden die europäische Tragweite ihres Unterfangens wirklich bewusst. Unter ihnen rauscht diese mächtige Trennlinie namens Nordsee, als ihr Ballon immer weiter und weiter zu sinken beginnt. Sie haben viel zu viel Ballast mit an Bord. Die Stapel Werbeprospekte für seine Flug-Show wirft Blanchard ins aufgewühlte Wasser. Jeffries bietet ihm seinerseits den Whiskey an. Die leeren Flaschen entsorgen sie über das Korbgeländer. Der Alkohol verbrüdert sie gegen das drohende Ertrinken. Denn ihr Ballon befindet sich weiter in rasantem Sinkflug. Auch den Anker werfen sie schließlich ab, er ist einfach viel zu schwer. Dann landet die aufwendige Gondeldekoration im Wasser, das Steuerrad und schließlich auch die britische und die französische Nationalflagge. Zu guter Letzt ziehen die beiden ihre Jacken, dann ihre Hosen aus, um das Gewicht zu senken.

All den persönlichen und nationalen Ballast abzuwerfen lohnt sich für die beiden: Als neue Pioniere der Luftfahrt erreichen sie, nahezu nackt, das europäische Festland. Ihre Landung verläuft ohne Möglichkeit zu ankern zwar nicht eben elegant: Sie blieben an einem Baum hängen. Aber die rauschende Grenze zwischen Insel und Kontinent ist überwunden, die Nationalflaggen im Meer versunken, Europa verbunden. Das war 1785.

Ich starre aus dem Fenster der Straßenbahn auf die Wand an einer Essener U-Bahnstation und mache mir Gedanken über Grenzen. »Wäre das nicht eine gutes Verkehrsmittel hier in der Stadt?«, frage ich mich. Anscheinend tue ich das so laut, dass meine Sitznachbarin denkt, ich rede mit ihr. Sie blickt auf den Heißluftballon auf dem Cover meiner Zeitschrift. 
»Vielleicht muss man dann nicht mehr in der U-Bahnstation warten, weil das Gleis noch von einem anderen Zug belegt ist«, sagt sie und lächelt. 
»Ja. Stau auf der A40 – egal«, antworte ich. »Stellen Sie sich das vor: Die Autobahn wäre keine Grenze mehr, weil man einfach darüber hinweg fliegen würde.« Ich beschreibe ihr, wie ein großer gelber Heißluftballon auf dem Zechengelände landet. Auf seinem seidigem Bauch leuchtet in blau die Liniennummer 107. 
Meine Sitznachbarin nickt: »Da oben gibt’s keine Ampeln und keine Baustellen.« 
»Ja, genau! Und dann die Aussicht!«
»Nur weiß man nie so ganz genau, wo man ankommen wird«, gibt sie zu bedenken. »Weil man mit dem Wind treibt.«

Als ich aussteige, merke ich, dass ich vor dem Förderturm der Zeche stehe. Offenbar bin ich am Hauptbahnhof in die verkehrte Linie 107 eingestiegen und wieder in den Essener Norden zurückgefahren. Zu allem Überfluss habe ich auch noch meine Jacke in der Bahn liegen lassen und jetzt friere ich. Ganz schön kalt wird es abends auf dem Zechengelände im Essener Norden. Und dunkel. Ich höre ein Auto aufheulen, jemanden schreien, fühle mich ein bisschen nackt ohne meine Jacke. 

An einem Ort, den es nur hier im Essener Norden gibt, sind Nacktheit und Ballonflüge für niemanden ein Problem. Ich setze mich dort ins Foyer und schreibe einen Brief an die Essener Verkehrsbetriebe. »Betrifft: Erweiterung Ihres Nahverkehrsangebots um eine dritte Linie 107 (Heißluft).«

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