Yelmos
Streifzüge durch Essen


by Pascal Bovée

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Residenzen

Die Zuschauer mit den spitzen, grünen Helmen applaudieren. Die Zuschauer mit den spitzen, grünen Helmen stehen Kopf. Eine Touristin mit gelber Bluse und spitzem, grünen Helm sieht aus wie eine riesenwüchsige Butterblume. Im Kopfstand wippt sie vor dem Ruhrmuseum auf der Zeche Zollverein hin und her, den Selfie-Stick ausstreckend, um das Gleichgewicht zu halten – und zum Posieren für den großen Moment. In wenigen Sekunden ist es soweit. Die Bürgermeisterin drückt den Knopf. Die roten Räder des Förderturms werden wieder in Gang gesetzt.

Sie wissen davon noch nichts, weil es erst im Jahr 2040 geschieht. Woher ich es dann weiß? Von Doktor Vogel, meinem Hausarzt. Aber ich fange mal vorne an. Mit einem Rezept von Dr. Vogel war ich neulich in der verkehrten Apotheke. Die Apotheke liegt in Katernberg, unweit der Zeche Zollverein, an der Viktoriastraße und ist gar keine Apotheke mehr, sondern inzwischen eine WerkStadt für Kunst und Soziales. Das stand aber noch nicht an der Tür.

Ein Mann mit schwarzem Zopf und brauner Haut begrüßt mich überfreundlich und drückt mir ein Formular in die Hand.

- Hello! We are very happy to have you here in the Apotheke. What do you want to ask this room?

- Entschuldigung, kann ich hier kein Rezept einlösen?

Zwei kleine Jungs, die an einem Tisch sitzen und Autoquartett spielen, lachen. Über meine Frage, glaube ich.

- Please give me your prescription, sagt der Mann mit dem Zopf. I will see what I can do. Meanwhile you can write down your question here.

- 22000 Umdrehungen, sagt der eine Junge mit herausgestreckter Brust. Dann streicht er sich seinen ordentlichen Scheitel zurecht. Neben ihm sitzt eine Frau, die sich mit breitem Lächeln als Cote vorstellt und mir erzählt, dass sie und die anderen Erwachsenen – es sind sechs – ein Künstlerkollektiv aus Chile sind und die Menschen in Essen um Fragen bitten. Gestern waren sie am Limbecker Platz und haben ein großes Gerüst aufgebaut, an dem die Fragen aufgehängt wurden. Was würdest du deine Stadt fragen?, sagt Cote mit spanischem Akzent und lacht.

- 22000 Umdrehungen, wiederholt der Junge etwas eingeschnappt.

- Must be a very loud car, meint Cote.

- Laute Autos sind mega!, sagt der andere Junge. Er heißt Ahmed und wohnt im Haus gegenüber. Sami, der erste Junge, lacht sich kaputt.

- Das ist doch kein Auto! Er zeigt uns seinen neuen Fidget Spinner. Der ist ganz aus Metall und glänzt wie eine goldene Sonne. Irgendwie sieht er aus wie ein aztekisches Artefakt in einem Indiana-Jones-Film.

- Mein Fidget dreht sich 22000 mal, erklärt Sami stolz. Ahmed glaubt das nicht und Sami will es beweisen. Er dreht ganz schnell und setzt die Sonne auf seine Nase.

- Der war bestimmt teuer, sage ich.

- Viel teuer. Aber ist anti Stress.

- Yesterday a woman at the Limbecker Platz asked me a very good question, sagt Pedro, der Mann mit dem Zopf. Warum sind hier so viele laute Autos?

- 200 Umdrehungen pro Minute, sagt Sami. Das ist diesmal nicht der Spinner. Während der noch auf seiner Nase dreht, schielt der Junge auf eine Quartettkarte. Ahmed runzelt die Stirn.

- 200 Umdrehungen? Ist das ein Fahrrad?

- Zweihundert! Hast du mehr?

- Nein.

Sami will die Autokarte nehmen, aber Ahmed hält sie fest.

- Sticht, sagt er.

- Sticht? Sami setzt einen skeptischen Blick auf, zerrt an der Karte – und der Fidget Spinner fällt ihm runter. Ahmed spielt grinsend den Super-Trumpf. Einen Ferrari. Sami protestiert.

- Das ist der mit den roten Rädern! Der hat viel mehr Umdrehungen!

- A1 sticht immer. Steht in den Regeln.

- The cars always lead to arguments, sagt Cote.

Pedro tippt etwas in seinen Laptop. Dann liest er es laut vor.

- Imagine a city without cars.

- Pedro has a vision, erklärt Fernando. Er gehört auch zu dem Künstlerkollektiv, das MIL M2 heißt, tausend Quadratmeter. Pedro beharrt.

- Just try. Imagine all the people in Essen riding bikes.

Ahmed und Sami machen die Augen zu und probieren es.

- You may say Pedro's a dreamer, meintFernando und lächelt.

- But I'm not the only one. Fernando himself is also a dreamer, of course. And Cote. And Constanza, Ceci and Diego, too.

Ob ich hier mein Rezept noch ausgehändigt bekomme? Jedenfalls ist das keine normale Apotheke. Eher sowas wie eine Zukunftsapotheke. Deshalb erzähle ich von einem Artikel über die Zukunft des Radfahrens im Ruhrgebiet, den ich gelesen habe.

- They started to build a highway for bikes here in Essen, did you know that? The city aims at 25% bikers in overall traffic in 2035.

- So that's one in four people going by bike in the future. Less than everyone. But still a nice imagination.

Pedro gibt mir das Rezept zurück und zuckt entschuldigend mit den Schultern. In dem Artikel stand auch, dass momentan erst einer von zwanzig Essenern das Rad nimmt. Das lasse ich mal unter den Tisch fallen. Man soll Visionen nicht zu früh mit Statistik konfrontieren. Aber wollen die Leute hier im Ruhrgebiet überhaupt aufs Rad umsteigen? Ich schaue hinaus auf die stark befahrene Kreuzung vor dem Schaufenster. Es beginnt schon wieder zu regnen.

- I'm going to get wet again on my way to the next Apotheke.

Ahmed runzelt die Stirn.

- Hast du kein Auto?

- Nur ein Fahrrad.

- Warum hast du kein Auto?

- Ein Auto ist teuer.

- Dann musst du ZWEIMAL arbeiten.

- Or maybe you just need a bike with a roof. Cote lächelt.

- Was ist ein 'roof'?, will Ahmed wissen.

Kurz darauf malen die Kinder Fahrräder mit Schornsteinen. Die Radfahrer tragen komische grüne Helme.

- Warum sind die Helme so lang und so spitz?

- Das sind Regenschirmhelme. Wenn es regnet, kann man die aufklappen.  

Cote ist begeistert.

- Maybe we should do a workshop here in the WerkStadt. Like Pimp Your Bike.

Kurze Zeit später hat Cecilia ein Plakat ausgedruckt, auf dem Samis rotes Fahrrad abgebildet ist. Workshop: Pimp Your Bike, Freitag 18 Uhr. Sie hängt es ins Apothekenschaufenster.

- Bekomme ich keinen Helm? Die Arzthelferin von Doktor Vogel verdreht die Augen. Schon wieder so ein Scherzkeks. Sie setzt ihr professionelles Lächeln auf für die Standardantwort.

- Sie sind der einzige Verkehrsteilnehmer hier im EKG-Raum. Glauben Sie mir, Sie werden nicht stürzen.

- Nein, ich meine so einen Helm mit Kabeln dran. Oder Saugnäpfe auf die Kopfhaut.

- Nur auf den Rücken und die Brust. Das genügt für Ihren Stresstest. Sie schaltet die Elektronik ein. Eine Linie hüpft über den Monitor.

- Alle zwei Minuten wird es dann ein Stückchen schwerer. Die Belastung steigt jeweils um –

Das Radfahren geht leicht. Es ist angenehm. Keine unübersichtliche Kreuzung. Kein Fußgänger auf dem Radweg. Kein zu dicht auffahrendes Auto, das mich drängt. Und kein Regen. Auf dem weißen Computerrad, mit den ganzen Kabeln am Körper, die nur mich messen, fühle ich mich wie der Mittelpunkt der Verkehrswelt. Das regelmäßige Piepen meines Herzschlags, die Linie, die in unbestechlichem Auf und Ab meine Statistik schreibt, schicken meine Gedanken in den Leerlauf. Auf dem Monitor sehe ich plötzlich mich selbst. Ich fahre über die Rüttenscheider Straße. Die Sonne scheint. Entgegen kommt mir ein sehr merkwürdiges, riesenhohes Gefährt. Es ist ein Oldtimer, wahrscheinlich ist Sonntag, aber dieser Oldtimer ist kein Auto. Es ist eines dieser antiken Fahrräder mit überdimensioniertem Vorderrad, auf dem man wie zu Pferd setzt. Der Reiter nimmt den Helm ab, um mich zu grüßen. Am Rüttenscheider Stern bimmelt die Straßenbahn. Sie sieht überhaupt nicht antik aus, sondern sehr modern. Ganz anders als ich sie kenne, sie ist nicht gelb, sondern grün. Auf der Kreuzung steht eine zur Kurve geschwungene, gläserne Rampe. Fahrradfahrer fahren hinauf. Eine junge Frau mit Birkenstocksandalen schiebt ihr crèmefarbenes Rennrad direkt hinten auf die Straßenbahn, die speziell dafür konstruiert zu sein scheint. Ein Mann motzt mich an, weil ich mit offenem Mund angehalten habe und den Verkehr aufhalte. Er möchte auch die Bahn nehmen. Auf deren Fensterscheiben prangt eine Werbeschrift: BikeTram – ein Modellprojekt der grünen Hauptstadt Europas.

Ich fahre mit. Die Linie 111 bringt mich nach Altenessen zur Schurenbachhalde. Sie fährt sehr sanft. Und ruhig. Ich schaue fasziniert aus dem Fenster nach draußen, wo an diesem Sommertag viele Radfahrer in der Stadt unterwegs sind. Ich genieße die Fahrt, die Sonne im Gesicht, die Ruhe – als die Bahn abrupt anhält und ein Hupkonzert die Entspannung beendet. Draußen, wir stehen vor dem Limbecker Platz, blockieren wütende Autofahrer den Kreisverkehr. Sie halten Transparente aus dem Fenster oder haben sie in die Heckscheiben gelegt. Radautobahn – Ich hup euch was!  Bike City – nicht mit uns! Wir wollen unsere A40 zurück!

A40? Ist die jetzt doch nochmal gesperrt worden wie 2010? Vielleicht für einen Grüne-Hauptstadt-Tag?

Ein Unding!, schimpft die Frau neben mir. Die haben doch wohl wirklich lange genug im Verkehr das Vorrecht gehabt! Auf meine Nachfrage erzählt sie mir, dass die A40 in eine Radautobahn umgewandelt wurde, genau wie die A52. Vor Staunen bekomme ich kein Wort mehr heraus. Die 42 soll ja, glaub ich, im Oktober dran sein. Deswegen machen die jetzt natürlich Terz.

Von Altenessen fahre ich mit dem Rad spontan weiter nach Katernberg. Die Frau hat mir erzählt, dass dort heute ein großes Event auf Zollverein stattfindet. Eine Eröffnung mit Ministerpräsident und Fernsehen und jeder Menge Tamtam.Die Radtrasse hier im Norden ist leider noch die alte. Die Wärme bringt mich ins Schwitzen. Sie ist überall. In den endlosen grünen Rohren neben mir, reist sie schneller als ich. Aber heute zieht sich der Weg irgendwie nicht so in die Länge wie sonst. Irgendetwas treibt mich an. Ich habe das Gefühl, die Rohre sind direkt an meinen Rücken angeschlossen und leiten die Energie in mich hinein. Sie fließt von hinten beständig in meinen Körper. So könnte ich bis nach Rom fahren.      

Lauer Sommerabend. Stimmengewirr. Lachen. Die Menschenmassen strömen auf den Platz. Viele tragen seltsame Kopfbedeckungen, die an grüne Pickelhauben erinnern. Vorne, vor dem Förderturm der Zeche Zollverein drängen sich die meisten. Unter einem riesigen Banner wird eine Rede gehalten. Bike City Essen steht darauf. 25 Radschnellwege. 250.000 Radpendler. 2050: Autofreie Stadt. Ich drängle mich nach vorne, um den Redner zu hören. Gerade scheint er einen Gag gemacht zu haben. Das Publikum ist amüsiert. Als ich mich weit genug vorgeschoben habe, sehe ich, wie der Redner, ein dicker Mann im Anzug, versucht einen Kopfstand zu machen. Sein Assistent hält ihn am linken Bein fest und wischt dann über das Tablet, zur nächsten Seite im Redemanuskript. Etwas angestrengt lächelnd, mit rotem Kopf im grünen Helm, der zum besseren Stand in den Boden gesteckt ist, fährt der Politiker fort: Frau Bürgermeisterin, ich bitte Sie um Nachsicht, denn lange werde ich so wohl nicht aushalten. Aber natürlich mache auch ich mit, wenn der Verkehr im Ruhrgebiet auf den Kopf gestellt wird. Meine Damen und Herren, die grüne Wende kam im Jahr 2017. Damals kam ans Licht, dass die großen deutschen Autohersteller ein Kartell gebildet hatten, um weiter schmutzige Geschäfte machen zu können, auf Kosten unserer Lungen. Rauchende Auspuffrohre, Feinstaub, Kohlendioxid. Die Menschen hier in Essen, mit dem Selbstbewusstsein, Deutschlands grünste Europäer zu sein, sagten damals voller Selbstbewusstsein: Uns reicht's! Wir steigen aufs Rad!“

Aufs Rad!,skandiert das Publikum. Aufs Rad! Aufs Rad! Wenige Sekunden später wird die Bürgermeisterin den roten Knopf gedrückt haben, der die Räder des Förderturms in Gang setzt. Sie öffnen das Tor zu einer Rampe, die weit nach unten führt. Alle beginnen wir, gemeinsam das Steigerlied zu singen, in diesem feierlichen Moment, in dem der Essener Tour de France-Sieger und Vorsitzende der United Nations Bicycle Organisation, Paul Wilsky-Saíd, den ersten Tross Fahrräder anführt wird, um in die Zeche hinabzufahren.

Vor mir tut sich, zu Rad unter Tage, eine zweite Stadt auf. Wo früher Loren auf Schienen quietschten und Kohle fuhren, kann ich ab heute selbst überall hinfahren, wo ich hinwill in Essen – im ganzen Ruhrgebiet. Ein Verkehrsschild links zeigt:Bochum 14 km.Hunderte Kilometer Radwege müssen das sein! Beleuchtet von modernen LED-Laternen, die im Design an alte Grubenlampen angelehnt sind und kostenfrei zur Verfügung gestellt werden von den lokalen Energieversorgern. Ihre Embleme prangen auf den Wimpeln, die an den Laternenmasten flattern. Der Strom wird aus Grubengas gewonnen, gegen die Feuchtigkeit unter Tage klappern mehr als 100.000 ausrangierte Nachtspeicherheizungen, die neu lackiert zugleich als pfiffige Sitzbänke an den unterirdischen Rastplätzen dienen. Das ist die fantastischste Infrastruktur für Radfahrer, die ich je gesehen habe! Das Netz ist so verzweigt, alles bewegt sich so schnell – wie kollektive Neuronen!

An der Ausfahrt Zentrum-Ostverlasse ich das Wunder der Umnutzung wieder und fahre direkt in einen roten Sonnenuntergang, vor dem sich am Horizont eine silberne Skyline entlangzieht. Mehr Metropolenfeeling geht nicht. Wahrscheinlich ist es Einbildung, aber von einem der Hochhäuser höre ich eine Klaviermelodie. Imagine there's no ca-ars. I wonder if you can.

Das Bild ist auf die Fassade projiziert. Es ist John Lennon, der auf der Dachterasse singt. Dann plötzlich fängt er an zu husten. Es sieht aus, als ob sein Gesicht in einer Rauchwolke verschwindet. Wie kann das sein? Hier im Zentrum fahren doch gar keine Autos mehr! Neben Lennon, das sehe ich erst jetzt, sitzt Helmut Schmidt und zieht an seiner Zigarette. Er grüßt die

die anderen Radfahrer und mich mit einem lapidaren Nicken. Der Altkanzler trägt ein HSV-Trikot mit der Werbeaufschrift RWE. Er spricht zu John. Sie wissen, was ich von Visionen halte,sagt er nüchtern.

Auf dem Parkplatz vor der WerkStadt, die mal eine Apotheke war, schraubt Diego einen goldenen Fidget Spinner an den Lenker von Samis rotem Kinderrad. Ahmed ist damit beschäftigt, einen Auspuff an seinem zu befestigen.

- I think my vision at the doctor's was inspired by Pedro. I mean when he asked us to 'imagine a city without cars'.

- And it was inspired by the drawings of the children, sagtCote und lächelt.

- What you said about the helmets reminded me of an artwork I saw.

- You mean the one by Pieterjan Ginckels made of bicycle helmets that was shown at PACT?

- No, I saw it in the Folkwang museum, sagt Fernando. It's a wooden structure called YELMO. It looks like a huge helmet.

Der YELMO ist eine Art Regal, in das man hineingehen kann. Also ins Innere des Helms. Er besteht aus vielen hölzernen Waben, in die immer wieder neu einzelne Objekte aus vier Jahrtausenden Menschheitsgeschichte eingesetzt werden.

- That helmet is something like a collective brain, erklärt Fernando.I have the feeling that your idea of a car free city is now part of a brain like that.

- You mean a brain like the internet?

- No, really like a helmet. But with all the visionary ideas in it.

- Well, I wonder if such a helmet wouldn't be too big for me. You know, I have this problem that when I hear the word 'vision' I always have to think of a former German chancellor.

- The one who was smoking in your story?

- Yes. He once said: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“

Pedro betrachtet, wie Sami einen Regenschirm an sein Fahrrad bastelt.

- Or to the Apotheke, sagt er.

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