Tanzplattform-Blog: „Diversität macht unsere Liste interessant“

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„Diversität macht unsere Liste interessant“

Elisabeth Nehring ist Tanzkritikerin und Autorin und in diesem Jahr Mitglied der Jury der Tanzplattform. In den letzten 18 Monaten hat sie noch mal einen neuen Blick für die Tanzszene bekommen. Im Interview mit TPF-Bloggerin Patricia Knebel spricht sie über stressfreies Zuschauen, Freiheit der Kunst und ihre ganz persönliche „Perle“.

Von Patricia Knebel

 


Frau Nehring, Sie sind zum ersten Mal Teil der Jury der Tanzplattform. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Es ist eine sehr spannende und ehrenvolle Aufgabe. Die letzten sechs Ausgaben der Tanzplattform habe ich als Journalistin kritisch begleitet und rezensiert; jetzt durfte ich auch die andere Seite kennenlernen. Für die Auswahl der Stücke musste ich mir viel mehr Produktionen in ganz Deutschland anschauen, als ich es für meinen Job normalerweise tue. Das war ziemlich herausfordernd, aber auch eine große Inspiration, denn es hat meinen Blickwinkel sehr verändert und geschärft. Als Tanzkritikerin analysiere ich das Stück schon, während ich in der Aufführung sitze, als Jurorin hatte ich viel mehr Zeit.


Warum ist der Zugang bei der Jury-Arbeit so grundlegend anders?

Als Juroren konnten wir die Stücke nachwirken lassen. Eine Produktion kann anders mit mir kommunizieren, wenn ich sie nicht sofort beschreiben, analysieren und beurteilen soll. Der zeitliche Druck, dem man notgedrungen beim journalistischen Arbeiten ausgesetzt ist, beschneidet zwar nicht meine Fairness in Bezug auf die Bewertung eines Stückes, aber die Art der Wahrnehmung. Als Jurorin habe ich erst einmal mit einem sehr offenen Blick geschaut und die Produktionen in ihrer Komplexität unkommentiert stehen gelassen. Ihren Sinn (oder Unsinn) konnte ich dann nach und nach entschlüsseln.


Beschreiben Sie bitte einmal die letzten anderthalb Jahre – die Sichtung und Auswahl der Stücke –, die der bevorstehenden Tanzplattform vorausgegangen sind...

Es gab überhaupt keine Vorauswahl an ‚großen Namen’, die unbedingt vertreten sein sollten. Wir waren also ganz frei. Auf unserer Liste standen um die 400 Stücke, die seit der letzten Tanzplattform in Deutschland uraufgeführt wurden. Außerdem wurde ein call for applications rausgeschickt, das heißt, Choreografen und Choreografinnen wurden gebeten, uns über ihre bevorstehenden Premieren zu informieren. 
Wir haben etwa die Hälfte aller gelisteten Produktionen live gesehen, daneben noch vieles auf Video. Alle zwei Monate haben wir uns für zwei bis drei Tage bei PACT Zollverein getroffen und sehr intensiv über das Gesehene diskutiert. Aus der Longlist haben wir nach und nach eine Shortlist mit ca. 30 Produktionen extrahiert. Als das „substantielle Streichen“ begann, wurde es richtig schwierig. Schließlich müssen ja nicht nur die einzelnen Arbeiten überzeugen, sondern eine solche Auswahl soll auch als Ganzes funktionieren und die Diversität im Tanz darstellen. Die nun bekannte Auswahl spiegelt wieder, was wir in den vergangenen anderthalb Jahren erlebt haben: Eine große ästhetische und thematische Vielfalt.


Wie definiert die Tanzplattform 2018 „Tanz"?

Sehr weit – wie bereits die Kolleginnen und Kollegen vor uns. Es heißt zwar immer noch Tanzplattform, eigentlich sollte man eher an den Oberbegriff „Choreografie“ statt „Tanz“ denken. Choreografie setzt grundsätzlich erst einmal Körper, Zeit und Raum in ein Verhältnis zueinander und das kann sich im Tanz, im Theater, in der Performance Art und der installativen Kunst finden. Das Stück „the last IDEAL PARADISE“ von Claudia Bosse zum Beispiel würde man nicht „Tanzstück“ nennen, aber es ist auf jeden Fall eine Choreografie. Eigentlich ist der Titel Tanzplattform daher irreführend; besser wäre „Plattform für verschiedene choreografische Ansätze“ oder einfach „Plattform für Choreografie“.


Welche Kriterien haben Sie bei der Auswahl der Stücke angewendet?

Eine Tanzplattform ist ein sehr spezielles Format, das vor allem vom internationalen Fachpublikum beobachtet und bewertet wird. Es mussten also Produktionen gefunden werden, die einem solchen Druck standhalten können. Dabei geht es auch um den Schutz der Künstlerinnen und Künstler, denn die Auswahl der Stücke wird immer kritisiert – das müssen Schöpfer und Stück aushalten können. Ansonsten war für uns immer das erste und wichtigste Kriterium die Qualität einer Produktion. Was das genau ist, haben wir für jede Arbeit neu definiert. 


Die Auswahl der Stücke der Tanzplattform 2018 ist, wie Sie eben erklärt haben, ein Gemeinschaftsprojekt. Sind Sie persönlich denn mit dieser Auswahl zufrieden?

Ja, sehr, ich finde die Auswahl wirklich gut. Obwohl ich nicht jedes Stück eingeladen hätte. Da wir Jurymitglieder aus ganz verschiedenen Richtungen des Tanzes kommen, hat jeder seine individuelle Perspektive einfließen lassen. Scarlet Yu zum Beispiel ist selbst Tänzerin und Choreografin; Bruno Heynderickx hatte als Kurator des Hessischen Staatsballetts ein breites Publikum im Blick und Leonie Otto hat aus der Perspektive einer Tanzwissenschaftlerin eher darauf geachtet, wie ein Stück diskursiv funktioniert. Die unterschiedlichen Blickwinkel und Meinungen haben unseren Entscheidungsprozess sehr befruchtet; oft haben wir uns mit unseren divergierenden Perspektiven gegenseitig die Augen für Stärken (oder auch Schwächen) von Produktionen geöffnet. Auf diese Weise kamen 13 Stücke heraus, die die verschiedenen Bereiche des Tanzes abdecken. Und genau diese Diversität macht unsere Liste so interessant. 


Haben Sie einen Favoriten?

(Überlegt einen Moment). „Favorit“ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Sagen wir so, das Stück von Claire Cunnigham und Jess Curtis ist für mich „die Perle“. Ich hatte „The Way You Look (at me) Tonight“ in Berlin in den Uferstudios gesehen und war sofort begeistert. Auch die Kolleginnen und Kollegen waren sehr berührt, als sie es gesehen haben; wir sind uns einig, dass dieses Stück etwas ganz Besonderes ist. 


Welchen Sinn und Zweck hat eigentlich eine Tanzplattform?

Die Tanzplattform wurde lange vor allem als Markplatz und Treffpunkt für Fachbesucher wahrgenommen. Aus der ganzen Welt kommen Leute, die professionell im Feld des Tanzes tätig sind und die erfahren wollen, was die aktuelle deutsche Tanzszene so zu bieten hat und nebenbei noch ihr eigenes Networking betreiben. 
Auf der TPF 2018 sollen Kommunikation und Austausch gestärkt werden. So eine Tanzplattform findet ja nicht in einem luftleeren Raum statt, sie hat eine ganz konkrete lokale und regionale Verortung und wird immer durchweht vom Geist der eigenen Zeit.
Um dem auch einen Raum zu geben, werden Veranstaltungsformate wie die tägliche, dreistündige „Assembly“ eigerichtet, bei der weiterführende gesellschaftliche und ästhetische Fragen besprochen werden können, wie etwa: welchen Handlungsspielraum hat die Kunst überhaupt (noch)? Kann sie zu einer möglichen Lösung politischer und gesellschaftlicher Probleme beitragen? Fragen, die unsere Zeit an uns richtet und die wir an unsere Zeit richten sollten.


Besonders im Moment sind die Ereignisse unserer Welt und in Deutschland turbulent (Trump, Nord-Korea, gescheiterte Regierungsbildung usw.). Welche Existenzberechtigung hat denn der Tanz in einer solchen Zeit?
 
Ich habe mich immer besonders für Kunst interessiert, die sich mit der Welt auseinandersetzt und die nicht nur um sich selbst kreist. In Zeiten wie diesen aber ist es zugleich wichtiger denn je, dass man für die Freiheit der Kunst einsteht. Dafür, dass Kunst sich eben nicht politisch verpflichten muss, dass sie nicht Stellung beziehen muss. Die Stärke der Kunst liegt ja gerade in ihrer Uneindeutig- oder Mehrdeutigkeit; darin, dass sie nicht in einfachen Kategorien wie richtig und falsch zu fassen ist. Nur wenn man so argumentiert, kann man sie unangreifbar für Ideologien oder Instrumentalisierungen machen. Die Proklamation der Freiheit der Kunst wird auf diese Weise selbst zu einem politischen Akt. 


Nehmen die Stücke der Tanzplattform Bezug auf weltpolitische Fragestellungen?

Ja, beispielsweise das Stück von Claudia Bosse. Ihr „the last IDEAL PARADISE“ setzt sich auf eine sehr explizite Art und Weise mit dem Thema der Katastrophe auseinander. Julian Warner und Oliver Zahn beschäftigen sich in ihrer Performance „Situation mit Doppelgänger“ mit dem wahrnehmbaren Nachhall des Post-Kolonialismus. Ähnlich bei Ligia Lewis und ihrem Stück „minor matter“, das sich mit dem Schmerz des schwarzen Körpers auseinandersetzt und so einen sehr aktuellen gesellschaftlichen Bezug herstellt, wenn man an die Debatte um die gegen schwarze Bürger gerichtete Polizeigewalt in den USA denkt.
Auch „The Way You Look (at me) Tonight“ von Claire Cunnigham und Jess Curtis hat aus meiner Sicht große politische Relevanz. Es beschäftigt sich mit gesellschaftlich bedeutenden Fragen wie dem Verhältnis von Behinderung und Nicht-Behinderung, dem Umgang mit körperlicher (Un)versehrtheit oder dem  Älterwerden. Diversität im Tanz hat sich in Deutschland in den letzten Jahren vor allem durch unterschiedliche Techniken und Stile ausgedrückt, aber fast nie über die darstellenden Körper vermittelt. Da haben Claire und Jess wirklich etwas Neues geschaffen.