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HARTMANNMUELLER


by Fabio Neis

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HARTMANNMUELLER // Residenz in Studio 2 bei PACT Zollverein

Während ihrer Residenz bei PACT arbeiten HARTMANNMUELLER an ihrer neuen Produktion ›Soloabend‹.

In welchen Lebensbereichen stoßen wir immer wieder an die Grenzen des gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens? Und können wir Strategien finden, diese Grenzen zu durchbrechen? Diese Fragen wenden HARTMANNMUELLER in ihrer neuen Produktion konkret auf zwei Bereiche an – jeder in einem Solo!

Bei MUELLER dreht sich in seinem Teil des ›Soloabend‹ alles um das Anderssein und um den Zusammenhang zwischen der Materialität individueller Körperidentitäten und sozial konstruierten Genderrollen. Auf der Suche nach der eigenen Identität, lotet er immer wieder gesellschaftliche Grenzen aus und verschiebt sie. Der Körper erfährt Transformationen – er wird konserviert, seziert, immer wieder neu zusammengesetzt und erstreckt sich weit über die binären Kategorien von "Mann" und "Frau" hinaus.

HARTMANN hingegen widmet sich dem Scheitern. Während sich die Methode ›Trial and Error‹ in der Naturwissenschaft bewährt hat, ist es gesellschaftlich wenig akzeptiert, ein Ziel zu verfehlen. Doch was für die Wissenschaft gilt, sollte erst recht für die Kunst gelten. Mit diesem Motto begibt sich HARTMANN auf die Bühne.

HARTMANNMUELLER im Gespräch über die Arbeit an ›Soloabend‹

1. In eurer neuen künstlerischen Arbeit hinterfragt ihr bestimmte gesellschaftliche Normen und versucht zugleich, Wege aufzuzeigen, um aus diesen auszubrechen. 
Könnt ihr beispielhafte Situationen, Orte oder Kontexte nennen, in denen ihr oder jedermann sich verstärkt beobachtet und in seinem Verhalten ›reguliert‹ fühlt? 

Prinzipiell fühlt man sich als Performer auf der Bühne sehr stark beobachtet. Man wird durchleuchtet und jede Handlung beurteilt, unter die Lupe genommen. In den sozialen Medien erkennt man so ein Verhalten auch sehr stark. Die Gesellschaft reagiert auf die Außenwelt, auf Likes, auf Follower. Man erhofft eine Reaktion, sehnt sich nach Bestätigung oder Anerkennung. Fühlt sich wahrscheinlich dabei auch beeinflusst wie man etwas beschreibt, posted, liked, teilt.

 

2. Daniel, dein Solo widmet sich dem ›Anderssein‹ und dem Zusammenhang zwischen der Materialität individueller Körperidentitäten und sozial konstruierten Genderrollen. Inwiefern ist der Prozess eigener Identitätsfindung stets in gesellschaftliche Normen eingebettet und wieviel Mut bedarf es der bewussten Entscheidung zum ›Anderssein‹?

Ich wundere mich immer wieder. Vor 17 Jahren habe ich mich geoutet, ich stehe zu meiner Homosexualität und ich bin sehr dankbar, dieses Leben leben zu dürfen. Vor drei Jahren habe ich mit meinem Partner ein Kind aufgenommen und trotz dieses großen Glücks und dem Bewusstsein, dass in 2019 so etwas möglich ist, stoße ich immer wieder an Grenzen. Diese Grenzen sind von mir selbst kreiert. Es sind Gedanken- und Gefühlskonstrukte, die natürlich von gesellschaftlichen Normen beeinflusst werden. Konstrukte, denen ich mir nicht immer bewusst bin, weil sie schon so lange in mir leben. Ein kleines Beispiel, es klingt vielleicht banal. Ich bin seit elf Jahren mit meinem Freund zusammen und noch nie, wirklich noch nie bin ich mit ihm Hand in Hand unbeschwert durch die Welt gelaufen, weil wir ganz am Anfang unserer Beziehung mal fast deswegen verprügelt wurden. Das ist eine Realität, die ich angenommen habe ohne sie weiter zu hinterfragen. Für mein SOLO hat mich RuPaul´s Drag Race, eine US-amerikanische Reality-Show, in der nach dem nächsten Amerikanischen Drag Superstar gesucht wird, sehr inspiriert und nach anfänglichen Zweifeln überzeugt. Es klingt so einfach: ›If you don't love yourself, how in the hell you gonna love somebody else?‹ oder ›We're born naked, and the rest is drag.‹ Ich fing an mich zu fragen, ob ich mehr bin als nur eine Person. Mein Bauch sagte mir direkt: ›Ja, ja, ja – auf jeden Fall und unbedingt.‹ Dann habe ich mich gefragt, ob ich mir erlauben kann mehr als nur eine Person sein zu dürfen. Und was bedeutet das genau? Und dann war ich mitten in einer Thematik, die schon immer mein ganzen Leben mitbestimmt hat. In meiner Zeit vor dem Outing fühlte ich mich wie ein Clown. Ein Clown, weil ich einer Körperidentität zugeschrieben wurde, die ich mir selbst nicht ausgesucht habe. Ich lernte sie zu spielen, auch wenn es immer sehr unbeholfen aussah. Ich lernte zu gehen, wie ein Junge zu gehen hat. Zu sprechen, wie ein Junge zu sprechen hat. Ich zog mich an, wie ein Junge sich anzuziehen hat (...)! Ich lebte eine große Maskerade. Ich fühlte mich wie in einer Freakshow und ich war die Hauptattraktion. Und jetzt nach 17 Jahren taucht wieder diese, zunächst sehr einfach wirkende Frage auf: Wer bin ich - und wenn ja wie viele? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es so viel Mut. Mut, sich zu konfrontieren mit allem, was man glaubt, zu sein. Mut, weil man Menschen verletzen könnte. Mut – nur Mut – nur Mut. Das hat mich überrascht. Und jetzt gehe ich mit all meinen Fragen auf die Bühne. Ich verbiete mir nichts. Ich zeige was ich zeigen möchte und ich freu mich drauf. 

3. Der gesellschaftliche Umgang mit dem ›Scheitern‹ ist das zentrale Motiv deines Solos, Simon. Warum ist es in Deutschland gesellschaftlich so wenig akzeptiert, ein Ziel zu verfehlen und inwiefern kann das Scheitern auch als Erfolgsrezept dienen?

Das liegt an verankerten, festgefahrenen Strukturen in unserer Gesellschaft. Das Streben nach Erfolg, Macht und Reichtum. Durch das Scheitern, ist man dazu gezwungen, neu zu denken. Sich zu hinterfragen! Das allein ist eigentlich schon Erfolg genug. Seine persönlichen Strukturen aufzubrechen, um neue Wege gehen zu können, kann sehr produktiv und innovativ sein. Es sollte mehr Freiraum zum Scheitern geben. Das würde uns alle entlasten. Den Druck nehmen. Erfolgsdruck! 

       

4. Für euren ›Soloabend‹ bespielt ihr als HARTMANNMUELLER erstmals separat die Bühne. Wie sich das auf eure Zusammenarbeit während der Proben ausgewirkt? Wer ist aufgeregter und will zuerst auf‘s Parkett?

Es hat sich im anfänglichen Probenprozess ergeben, dass jeder mal sehr konzentriert an seinen eigenen Thematiken arbeiten möchte. Entscheidungen mal alleine treffen. Den Prozess alleine bestreiten. Während der Probe ist jeder für sich. Es gibt Momente, in denen wir uns gegenseitig etwas zeigen, danach besprechen wir uns und proben dann anschließend alleine weiter. Aufgeregt sind wir beide nicht mehr oder weniger als sonst. Wer zuerst auf Parkett möchte? Das hängt letzten Endes von der Dramaturgie des Abends ab. Und das wiederum von den beiden Soli. Und diese sind noch nicht fertig ;-)

Seit sieben Jahren stehen wir gemeinsam auf der Bühne. Seit sieben Jahren kennen wir unsere Arbeit hauptsächlich aus der inneren Perspektive. Uns fehlt die Draufsicht. Das Außen. Wir sind gerade dabei unsere Arbeitsstrukturen zu verändern. HARTMANNMUELLER neu zu definieren! Wir sind gespannt, was diese Entscheidung mit sich bringt. Im nächsten Jahr werden wir beide den Bühnenraum dann ganz verlassen und werden mit einer Gruppe von Menschen arbeiten. HARTMANNMUELLER choreographiert. Auch mit dieser Entscheidung verlassen wir unsere Komfortzone. Wir sind bereit, neue Wege zu gehen und sind gespannt, wohin es uns führt. 

 

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